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Geschichte sehr nah

Frühling und es ist Sonntag in Darmstadt-Arheilgen ich sehe aus dem Fenster: Schräg gegenüber das Pfarrhaus der hiesigen Evangelisch-lutherischen Auferstehungsgemeinde, in dem ich so oft und gern zu Gast bin. Neben meinem Haus die Aaron-Reinhardt-Straße, benannt nach dem Verleger des „Arheilger Anzeigers", Aaron Reinhardt.

 

Vor 81 Jahren wohnte im Pfarrhaus, Karl Grein, auch der „Schwarze Karl" genannt und in der damaligen Obergasse Aaron Reinhardt mit seiner Tochter Johanna. Karl Grein, über den ich noch ausführlicher berichten werde, war Mitbegründer des Pfarrernotbundes, Mitglied der Bekennenden Kirche und mittendrin im sogenannten „Kirchenkampf", der auch das kleine Arheilgen spaltete. 

Es ist die Nacht vom 11. November 1938.

 

In dem von Hans-Heinrich Herwig verfassten Buch „Karl Grein" werden die Ereignisse dieser Nacht zusammengefasst: Es ist die Nacht vom 10. zum 11. November.  Gegen 1 Uhr nachts hört Karl Grein in seinem Pfarrhaus Fensterklirren und Axtschläge. Ein Arheilger SA-Trupp von ca. 5 Männern dringt in die Wohnungen jüdischer Familien ein und zertrümmert Möbel und Einrichtungen. Zuerst hält Grein sich zurück, aber dann hört er wie der Trupp in die damalige Obergasse weiterzieht. Auch dieses Mal Axtschläge, dann ein Aufschrei und ein Aufschlag. Nun geht Karl Grein doch raus und sieht noch wie sich der SA-Trupp aus dem Staub macht. Auf dem Boden liegt eine Gestalt. Erschüttert stellt er fest, dass es die 32 Jahre alte Johanna Reinhardt ist. Aus Angst hat sie sich aus dem Fenster gestürzt und ist schwer verletzt. Nun  –  heute wohne ich direkt gegenüber des ehemaligen Hauses der Familie Reinhardt. Die Häuser stehen hier so eng beieinander, dass man eigentlich von überall Einblick hat. Aber in dieser Nacht hat nur ein Mensch gehandelt – Karl Grein. Er rief einen Arzt, der Johanna ins Krankenhaus brachte. Sie starb 2 Tage später an ihren Verletzungen, ihr Vater folgt ihr,  „Flucht in den Tod".

 Am 20. November 1938 stand dann morgens mit roter Farbe auf der frisch renovierten Wand des Pfarrhauses geschmiert: Schwarzer Karl, Judenhirte, Volksverräter, Sabotage gegen die Volksgemeinschaft" – Er hatte lediglich einen Arzt gerufen.

Ich bin erschüttert. Selbstverständlich habe ich mich schon viel mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt. Aber diese Ereignisse in allernächster Nähe, machen doch noch einiges mehr bewusst. Mir geht es nicht um die Schuldfrage. Es geht mir eher um die Frage der eigenen Verantwortung und Handlungen. Für mich ein Grund, Karl Grein in meinem Kalender aufzunehmen.

 Vor dem ehemaligen Haus der Reinhardts sind heute zwei „Stolpersteine" in den Boden eingelassen: