· 

Hoffnung und Menschlichkeit – der stille Karl Plagge

„Wenn es auf Erden nur noch „Geißeln und Opfer" geben sollte, dann war es Pflicht, nicht auf den Seiten der Züchtiger zu stehen, sondern die Partei der Opfer zu ergreifen", so Karl Plagge in einem Brief von 1956. Wehrmachtsoffizier Major Karl Plagge war von 1941 bis 1944 Leiter des Heereskraftfahrparks (HKP) 562 Ost im litauischen Wilna (heute Vilnius). Er nutze diese Position, um möglichst viele Menschen, die im dortigen jüdischen Ghetto eingeschlossen waren, als Arbeitskräfte anzufordern, um sie vor drohenden Exekutionen zu retten. Und doch machte er sich Zeit seines Lebens Vorwürfe, nicht mehr getan zu haben.

Lange blieb Karl Plagge der Öffentlichkeit unbekannt. Erst viele Jahre nach seinem Tod wurde auf die Initiative von jüdischen Überlebenden und deren Nachkommen Plagge 2005 posthum der Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ zuteil. 

Karl Plagge kämpfte mit 19 Jahren als Soldat im 1. Weltkrieg. Er erhielt eine Ausbildung in medizinischer Chemie, blieb jedoch zunächst arbeitslos. So trat er wie viele andere Deutsche seiner Zeit bereits 1931 der NSDAP bei. „Ich glaubte damals den sozialen Versprechungen und Friedensbeteuerungen Hitlers und glaubte mich, für eine gute Sache einzusetzen..."
Die Ernüchterung folgte recht schnell. 1934 wurde er als Ingenieur bei der Maschinenfabrik Hessenwerke angestellt. Aber bald bemerkte er den rücksichtslosen Umgang der NSDAP mit jüdischen Mitbürgern und politischen Gegnern. Er begann sich zu distanzieren und weigerte sich an „weltanschaulichen Schulungen" teilzunehmen. Es kam zu immer mehr Konflikten, ab 1938 übte er keine Tätigkeit mehr für die Partei aus.  1941 wurde er zum Leiter des Heereskraftfahrparks (HKP) 562 Ost in Litauen beordert.

Der Anteil der jüdischen Bevölkerung in Wilna, das als das Jerusalem des Ostens galt, lag 1931 bei 28 Prozent bzw. 55.000 Personen (Wikipedia). Die meisten von ihnen wurden ermordet. Im Ghetto von Wilna wurden damals an die 40.000 litauische Juden eingeschlossen. Plagge versuchte, Menschenleben zu retten, indem er möglichst viele Juden als Arbeitskräfte für seinen Fuhrpark anforderte. Um Familien zusammenzuführen, schuf er Stellen für Näherinnen oder „erfand“ Tätigkeiten. Sein Argument: So könne er die bestmögliche Versorgung der Wehrmacht gewährleisten. Geschickt gelang es ihm, Vorgesetzte und Kollegen in sein Netzwerk zu integrieren: „Darf ein Offizier mit Ehrgefühl der Ermordung wehrloser Menschen tatenlos zusehen?", so fragte er damals den Gebietskomissar von Wilna-Stadt. Dieser gab ihm recht und Plagge konnte weiter tätig sein, so dass er immer mehr Menschen aus dem Ghetto beschäftigen konnte. 

Im Juli 1944 musste das Lager aufgelöst und der SS übergeben werden. In einem verdeckten Appell warnte Plagge seine Arbeiterschaft. Viele Juden suchten Zuflucht in vorbereiteten Verstecken. Dank Plagges Warnung überlebten 250 Menschen.

... ich bin im Grunde kein Held, sondern ein recht ängstlicher Mensch..."
Karl Plagge zeigt, was ein einziger Mensch bewirken kann, wenn er sich gegen Unrecht auflehnt.
Und doch versuchte er auch zu begreifen, warum seine Zeitgenossen so unmenschlich handelten: „Ich habe diese Menschen als blinde Werkzeuge einer Sinnestäuschung empfunden und ich muss Ihnen sagen, dass auch diese Menschen mich erbarmt haben..." und: 
„Mir kam die Erkenntnis, dass das Böse in der Welt fast immer von Unbewusstheit, Unwissenheit und Schwäche herrührt", so Plagge später im Rückblick. Er ließ sich im Entnazifizierungsverfahren auf eigenen Wunsch als Mitläufer einstufen, obwohl er von der Spruchkammer als Entlasteter eingestuft werden sollte.
Karl Plagge starb 1957 in Darmstadt. Sein Ehrengrab befindet sich auf dem Alten Friedhof in Darmstadt.

Quelle: Marianne Viefhaus, „Zivicourage in der Zeit des Holocaust"