Frühjahr 2019: Ich bin bei Paul-Hermann Gruner und wir diskutieren über „meine" Protagonisten für den Kalender „Darmstädter 2020". „Nimm Moritz Neumann", meint Freund Paul. „Moritz Neumann?", frage ich. „Ja, Moritz Neumann: Journalist, Schriftsteller, SPD-Politiker, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Darmstadt und vieles mehr...", ist die Antwort. Ich zögere. Ich bin mir nicht sicher.
„Lies!", meint Paul und drückt mir ein Buch in die Hand: „Im Zweifel nach Deutschland" von Moritz Neumann. Paul ist hartnäckig.
Und ich lese. Und bin bereits nach den ersten drei Sätzen überzeugt –
ja – den Mann möchte ich porträtieren. Wie kann es sein, dass drei Sätze eines mir unbekannten Schriftstellers mich so schnell überzeugen können? Manchmal stimmt eben die Chemie.
Oder anders gesagt: Moritz Neumann gelingt es in seinem Buch die zerrissene Situation jüdischer Bürger im Dritten Reich nachvollziehbar auf den Punkt zu bringen. Seinem Vater, Hans Neumann, glückte 1936 die Flucht aus Deutschland. Er schloss sich zunächst der Internationalen Brigade im Spanischen Bürgerkrieg an und kam anschließend in die französische Fremdenlegion nach Marokko. Nach aufreibenden Zeiten unterstützte er nach Kriegsende jüdische Bürger in Fulda und blieb fast gegen seinen Willen in Deutschland. Ein Schicksal - das bewegt, packend geschildert.
Szenenwechsel, April 2019: Ich sitze mit Daniel Neumann, dem Sohn Moritz Neumanns und seinem Nachfolger als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in der Darmstädter Synagoge. Ich bin froh, dass er sich die Zeit für ein Gespräch nimmt. Vor der Synagoge steht wie selbstverständlich ein Polizeiwagen. Viel zu selbstverständlich, finde ich, schlimm, dass das sein muss. Während unseres Gesprächs entsteht in meinem Kopf ein Bild von Menschen, die auf gepackten Koffern sitzen. Ich frage mich: „Wie ist es, nicht ankommen zu können?" So erging es vielen jüdischen Bürgern nach dem Krieg, die auf ihre Ausreise warteten. Moritz Neumann, Reporter bei der Frankfurter Rundschau, der Jüdischen Allgemeinen und dem Darmstädter Echo, hatte viele menschliche Schicksale in seinem Elternhaus in Fulda miterlebt und er zog die Konsequenzen: Leidenschaftlich und hartnäckig schloss er die Lücken in der Berichterstattung in Darmstadt ab 1945, interviewte Hunderte von Zeitzeugen und entdeckte bei seinen Recherchen manche Spur von Alt-Nazis, die untergetaucht waren. Aber er war auch im Sinne der Völkerverständigung engagiert. Im Hessischen Rundfunk brachte er mit seinen Radiobeiträgen das Judentum der Öffentlichkeit näher. 1988 initiierte der Journalist Rüdiger Breuer den Bau der jüdischen Synagoge in Darmstadt. Neumann widmete sich mit ganzem Herzen diesem Projekt und leistete herausragende Integrationsarbeit in der Jüdischen Gemeinde. Seit 1991 übernahm er auch das Amt des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Darmstadt. Zudem spielte er mit Irith Gabrieli bei „Oif Simches“, eine der ersten Klesmergruppen in Deutschland.
Angesichts des wieder wachsenden Antisemitismus in Deutschland, ist es mir umso mehr ein Anliegen, Moritz Neumann wieder in Erinnerung zu bringen. Er war nicht bequem. Er hat seinen Zeitgenossen die Meinung gesagt und den Finger öfter in offenen Wunden gelegt. Und er hatte Recht! Es ist viel zu viel verschwiegen und meiner Meinung nach viel zu wenig „gutgemacht" worden. Dabei war Moritz Neumann bei aller Unbequemlichkeit ein integrierender Mensch mit dem Herzen am rechten Fleck. 2011 erhielt er die Wilhelm-Leuschner-Medaille.
Ich danke Daniel Neumann herzlich für das ausführliche und interessante Gespräch und dass er auch für weitere Nachfragen zur Verfügung stand.
Mein weiterer Dank geht an Moritz Neumanns langjährigen Freund, den Echo-Redakteur Klaus Staat, der sich die Zeit nahm, wichtige Fakten aus Neumanns Leben für mich zusammenzustellen. Ich hoffe, mit meinem Bild Optimismus und den Glauben an eine positive Zukunft Ausdruck verleihen zu können.